Cover by gremlin/iStock
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Wie lange sie schon so da sitzt, weiß sie nicht, sie weiß nur, dass sie es endlich hinter sich bringen muss. Immer wieder richtete Isy die Pistole auf ihre Mutter, brachte es bis jetzt aber nicht übers Herz, sie von ihrem grausamen Zustand zu befreien.

Tom hat sich nicht mehr bei ihr blicken lassen. Vielleicht inspiziert er gerade den Rest des Hauses. Wenn irgendetwas wäre, hätte er sich schon längst gemeldet.

Isy steht schwerfällig auf, geht hinter das Fußende des elterlichen Ehebettes - ein großes, rustikales Eichenbett - und richtet erneut die Waffe auf ihre untote Mutter. Ihre Arme zittern, sie kann sie kaum stillhalten, um gescheit zu zielen. Plötzlich scheint Anita aggressiv zu werden, schlägt immer wilder mit Armen und Beinen aus. Ein Seil reißt, ihr linker Arm ist frei und greift in Isys Richtung. Komm schon, Isy! Schieß! Doch Isy steht weiterhin wie erstarrt da und ringt mit sich, endlich den entscheidenden Schuss zu tätigen.

Das Seil, das Anitas rechten Arm festhält, spannt sich und die Fasern reißen, bis ihr gesamter Oberkörper frei ist. Sie richtet sich blitzschnell auf, reißt ihren Mund auf, Speichel tropft von ihren Zähnen. Ihre Hände kommen Isy rasend schnell entgegen, woraufhin sie aus dem Schreckmoment heraus den Abzug betätigt und ihrer Mutter in den Kopf schießt. Blut spritzt in ihre Richtung, ehe der Körper leblos zurück aufs Bett fällt.

Isy lässt die Waffe fallen, ihre Hände sind zu schwitzig und zittrig, um sie weiterhin halten zu können. Ihr Körper schwankt, ihre Beine drohen, unter ihr nachzugeben. Sie spürt, wie ihr Magen rebelliert, sie muss aufstoßen, ein bitterer Geschmack breitet sich in ihrem Mund aus. Wie eine Fontäne schießt flüssiges Erbrochenes aus ihr heraus, direkt auf das offene Bein ihrer Mutter. Ihr wird immer heißer, der Schweiß bricht ihr aus. Sie muss einfach raus hier. Mit letzter Kraft greift sie nach ihrer Waffe und rast förmlich die Treppe herunter. Wie in Trance bewegt sie sich fort, stößt plötzlich gegen jemanden, schreit erschrocken auf.


Foto by gremlin/iStock
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Langsam schleichen sie durch die Büsche und die dichten Bäume. Nur selten erhaschen sie einen Hasen, Axel und Linda erledigen diese jedoch schnell.

Isy hat ihren Bogen gespannt, zielt erneut auf einen Hasen, ist voll und ganz auf ihre Beute konzentriert - bekommt nicht mit, dass auch auf sie gezielt wird. Linda steht in einiger Entfernung, halb verdeckt von einem Baum, und richtet ihr Gewehr auf sie. Sie hat ihren Hinterkopf genau im Visier. Nicht mehr lange und sie wären sie los. Doch spürt sie plötzlich eine Hand auf ihrem Arm, die sie hinter den Baum zieht.

»Sag mal, spinnst du?«, fährt Axel sie an. »Soll das ein Scherz sein?«

»Nein, absolut nicht«, gibt sie unverhohlen zu.

»Linda, Tom killt uns, wenn wir sie nicht mit zurückbringen.«

»Wir können es doch wie einen Unfall aussehen lassen. Sie ist mir einfach vor die Linse gelaufen.«

Von so viel krimineller Energie ist sogar Axel geschockt. Was in Linda vorgeht, weiß sowieso nur sie. Niemandem vertraut sie sich an, selbst ihm nicht. Wer weiß, was ihr im Moment durch den Kopf geht. Warum will sie Isy töten? Ihm ging es zu Beginn auch nur um die Vorräte und die Waffen, welche sie und Tom mitbrachten. Axel spielte mit dem Gedanken, die beiden schnell wieder loszuwerden. Allerdings nicht so.

»Sowas haben wir noch nie gemacht und werden es auch nie machen.«

»Sie wäre nicht die Erste, die wir töten.«

»Linda, das ist was anderes. Wir sind hier nicht im Krieg. Hast du verstanden?«

Seine Partnerin scheint sich nicht für das, was er sagt, zu interessieren.

»Verstanden?«

»Ja ja.« Mit diesen Worten befreit sich Linda aus Axels Griff und macht ein paar Schritte auf Isy zu, die den Hasen verfehlt und mittlerweile ein Reh im Visier hat. Linda hebt erneut ihre Waffe und zielt auf Isy, als hätte es das Gespräch von eben nicht gegeben. Jetzt hat Axel endgültig genug. Er packt sie am Arm und reist sie rum, wobei sich ein Schuss löst ...


Foto by gremlin/iStock
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»Mike, wie weit bist du?«, ruft Isy in den Flur hinein, erntet jedoch keine Resonanz. »Mike?«

Es bleibt still. Von Mike ist nichts zu hören. Eben war er doch noch hinter ihr gewesen. Isy durchstreift die gesamte Praxis. Sie ist recht groß, hat zwei Arztzimmer, drei Behandlungsräume, den Aufenthaltsraum und zwei Toiletten. Selbst auf dieser findet sie Mike nicht. Vielleicht wartet er vor der Praxis auf sie. Doch auch hier ist nichts von ihm zu sehen.

»Mike?«, ruft sie in die Gegend und läuft den Fußweg vor der Praxis auf und ab, hört und sieht allerdings niemanden, abgesehen von einem Schleicher, der hinter einem Müllcontainer zum Vorschein kommt. Diesen hat Isy schnell erledigt. Ein Messerhieb in den Schädel und der Untote liegt am Boden. Das Töten dieser Unwesen geht ihr mittlerweile so von der Hand. Es sei denn, es handelt sich um die schnelle Version, der sie jedoch schon länger nicht mehr über den Weg gelaufen ist.

Vor der Praxis wieder angelangt, betritt sie diese noch einmal, geht jeden Raum von neuem ab. Im Aufenthaltsraum fällt ihr hinter einem bodenlangen Vorhang eine Terrassentür ins Auge, die sie zuvor übersehen hat. Die Tür steht offen, führt auf einen Hinterhof. Doch auch hier ist von Mike nichts zu sehen.

»Mike!«, ruft sie erneut nach ihm, woraufhin sie abermals keine Antwort erhält. »Wo zum Teufel steckst du?«, fragt sie leise vor sich hin. Wie kann ein Mann von Mikes Statur so einfach verloren gehen?

 

»Wie meinst du das, er ist weg?«

Nicht nur Danny sieht sie ungläubig an. Auch Axels Blick verrät ihr, dass er an ihrer Wahrnehmung zu zweifeln scheint.

»Wie ich es euch schon gesagt habe: In dem einen Moment war er noch hinter mir und dann war er auf einmal weg. Ich hab überall nach ihm gesucht und nach ihm gerufen, aber da war keine Spur von ihm.«

»Mike kann doch nicht einfach so verschwunden sein!« So aufgebracht hat Isy Danny noch nie erlebt. Seine Stimme klingt ratlos.

»Es ist aber so, Danny«, versichert Isy ihm. »Ich bin doch nicht bescheuert. Axel! Hältst du mich etwa für bescheuert?«

»Natürlich nicht. Aber du musst schon zugeben, dass es verrückt klingt, was du da sagst.«

»Ist mir schon klar.« So muss sich ein Verdächtiger im Kreuzverhör fühlen: verzweifelt und unverstanden. »Geht euch die Praxis doch selbst anschauen.«

»Das ist eine gute Idee!« Danny macht sich direkten Weges auf zu besagter Praxis, gefolgt von Axel und Isy. Weiterhin ist hier keine Spur von Mike zu sehen.

»Vielleicht ist er hier raus.« Danny hat die offenstehende Terrassentür entdeckt und betritt den Hof.

»Dort ist er auch nicht«, erklärt Isy.

Danny steht inmitten des Hofes, umgeben von vier Hauswänden. Zwischen zwei Wänden geht eine Gasse ab, in der er nach Mike rufend verschwindet.

»Wenn er hier wär, hätte er sich doch schon längst gemeldet«, ruft Isy ihm hinterher. Verzweifelt blickt sie zu Axel. Mittlerweile scheint er ihr zu glauben, dass Mike verschwunden ist. Schließlich folgen sie und Axel Danny in die Gasse. Eine weitere führt sie auf die Hauptstraße, unweit von ihrem Wagen. Danny steht mitten auf der Straße und dreht sich in alle Richtungen. Isy läuft zu ihm, fasst ihn an den Schultern, damit er aufhört, sich im Kreis zu drehen.

»Danny! Hör auf damit!«

Er stoppt in seiner Bewegung, hoffnungslos sieht er sie an. »Isy, wo ist er?«


Foto by ratpack223/iStock
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Aus der Ferne erkennt Isy Carola, die ein Stück den Wald hinein an Toms Grab kniet. Die meiste Zeit des Tages verbringt sie hier – direkt neben dem Grab ihres gemeinsamen Kindes. Isy schaudert es, wenn sie an die Geburt zurückdenkt. Etwas Traurigeres hat sie zuvor nicht erleben müssen.

Ein paar Meter weiter links von Carola entdeckt Isy einen Schleicher, der geradewegs auf diese zuhumpelt.

»Carola!«, ruft Isy ihr zu, doch reagiert diese nicht. »Carola, pass auf!« Wieder keine Resonanz. Weiterhin kniet sie vor dem Grab mit gesenktem Blick, wie Isy beim Näherkommen bemerkt. So sehr in ihre Gedanken vertieft kann sie nicht sein, dass sie den Schleicher oder zumindest Isys Rufen nicht mitbekommt. Der Untote kommt Carola gefährlich nahe. Isy legt an Tempo zu.

»Carola, verschwinde da!«

Erneut keine Reaktion, als wolle sie von dem Schleicher gefasst werden. Isy zückt das Messer aus ihrem Stiefel und hastet in den Wald. Der Untote steht unmittelbar neben Carola, seine Hand berührt ihr Haar. 


Foto by Grandfailure/iStock
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Was für eine gequälte Unterhaltung. Isy hat sich bemüht, möglichst unbeschwert zu wirken. Doch Axel kann sie nichts vormachen. Ihm war anzusehen, dass ihm ihr merkwürdiges Verhalten nicht entgangen war. Nun kann sie nur hoffen, dass er es auf sich beruhen lässt und nicht weiter nachhakt.

Statt Linderung durch die Schmerzmittel zu erfahren, geht es ihr dreckiger als zuvor. Auf das erste Medikament hat sie mit unerträglichen Magenkrämpfen und Kopfschmerzen reagiert. Vielleicht hat sie es mit drei Tabletten auf einmal ein wenig übertrieben, allerdings sind ihre Schmerzen mittlerweile kaum zu ertragen. Irgendwie muss sie diesen Tag überstehen, dann versucht sie es morgen mit einem anderen Mittel in niedriger Dosierung. Ein ständiges Jucken der Bisswunde erschwert es ihr, ihren Umstand vor den anderen zu verheimlichen. Die umliegende Haut ist durch ihr Dauerkratzen gerötet, teils aufgekratzt und blutet stellenweise, was neben den Schmerzen ein ungeheuerliches Brennen hervorruft. Für Notfälle müssen sie stets etwas auf Lager haben. Durch die nässende Wunde wechselt sie den Verband jedoch häufig, ihr Vorrat neigt sich langsam dem Ende. Bald wird sie erneut mit auf Tour gehen, um neues Verbandsmaterial zu besorgen. Doch wird sie dafür sorgen, dass Udo nicht wieder mit von der Partie ist. Ihr Aufeinandertreffen im Apothekenlager war ihr nicht geheuer. Seitdem hat sie das Gefühl, er giert ihr förmlich hinterher – so wie Sandra Axel. Isy ist weder blind noch dumm. Ihr ist es nicht verborgen geblieben, dass diese Frau einen Narren an ihrem Freund gefressen hat. Wenn Isy ihm weiterhin nur Sorgen bereitet, wird er sich gewiss überlegen, ob sie die richtige Wahl war.


Foto by kumpolstock/iStock
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Mit zittrigen Beinen führt Isys Weg sie geradewegs zu genau der Stelle, an der Wolfgang Axel erschossen hat, damit er sich nicht verwandelte. Ein Klumpen aus Blut, Haaren, Geweberesten und Knochen ist zu sehen, ansonsten haben die Untoten von ihrem Freund nichts übrig gelassen. Unvermittelt rebelliert Isys Magen und schickt eine Ladung Gallenflüssigkeit die Speiseröhre hinauf, die sie vor sich ergießt. Innerlich zerrissen lässt Isy den Spaten fallen, ihre Beine geben unter ihr nach. Isy sackt zu Boden, stützt sich mit den Händen ab und beginnt, bitterlich zu weinen. Zutiefst bereut sie es, hierhergekommen zu sein. Der Geruch, welcher von Axels Überresten ausgeht, ist kaum zu ertragen. Es wird Zeit, sich zu fangen und von hier zu verschwinden. Doch fällt Isy da etwas ins Auge, womit sie nicht gerechnet hat: Axels Bundeswehrmarke ist zwischen den Geweberesten zu erkennen. Ohne weiter darüber nachzudenken, wo sie ihre Hand reinsteckt, greift sie nach der Marke und steckt sie sich in die Hosentasche. Nun wird es aber allerhöchste Zeit, denkt sie sich und erhebt sich, als sie von der Seite umgerissen wird. Ein Schleicher reißt sie mit sich um und schnappt stöhnend mit seinen dreckigen Zähnen nach ihr. Nur schwer kann Isy diesen mit ihren Händen von sich fernhalten. An den Spaten kommt sie nicht heran. Diesen Untoten hat sie nicht kommen hören. Ihre Befürchtung, dass sie immer lautloser werden, hat sich aufs Neue bewahrheitet. Er muss einen Affenzahn draufgehabt haben, so wie er sie umgehauen hat. Um das verweste Gesicht von sich zu drücken, packt Isy mit der Hand in dieses. Jedoch ist das Fleisch so weich, dass sie abrutscht und die Zähne des Schleichers in ihrem Unterarm landen. Kräftig beißt dieser zu. Ein gellender Schrei entfährt Isys Kehle. Den Schmerz des ersten Bisses hatte sie schon vergessen, bis er nun in diesem Augenblick wieder entflammt. Ein unerträgliches Gefühl, das Isy kaum zu beschreiben vermag, macht sich um die Wunde herum breit. Der Untote hängt immer noch an ihr fest, droht, das Fleisch in einem Stück von ihrem Arm abzureißen. Mit der freien Hand will sie ausholen, um den Schleicher zu vertreiben, als ein weiterer sich zu ihr niederlässt, nach ihrem Bein schnappt und ebenfalls zubeißt. Schiere Panik macht sich in Isy breit. Die Angst, von den Untoten zerrissen und getötet zu werden, hat sie eingenommen und lässt sie nicht mehr los. Ehe sie anfangen kann, sich zur Wehr zu setzen, sieht sie über sich einen weiteren Schleicher auftauchen, der sich an ihrem Oberarm zu schaffen macht, an dessen unterem Ende der zweite Untote zugange ist. Innerhalb weniger Sekunden haben sich zu diesen dreien noch andere Schleicher gesellt, deren Anzahl Isy gar nicht benennen kann. Sie ist mit Panik haben und Schreien beschäftigt. So hat sie sich das nicht vorgestellt. Und dann ausgerechnet an der Stelle zu sterben, wo sie Axel verloren hat. Ist das Schicksal?